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»Es gibt keine Rechtfertigung«, sagte Anatol Ferenz.
»Offensichtlich hatte er jedes Vertrauen in Gott verloren.«
Ich sagte: »Oder Gott das Vertrauen in ihn.«
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»Beten hilft nichts«, sagte Volker Thon, der Leiter der
Vermisstenstelle, in der ich zwölf Jahre lang als
Hauptkommissar arbeitete. »Entweder wir finden die junge Frau
innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden, oder wir müssen
damit rechnen, dass die Entführer sie töten. Bringt der Vater das
Geld auf?«
Unmittelbar vor dem am Starnberger See gelegenen
Grundstück des Showmasters Ronny Simon war die
zweiundzwanzigjährige Tochter Lucia von Unbekannten in
einen Lieferwagen gezerrt und verschleppt worden.
Am Abend desselben Tages tauchte auf dem Bavaria-
Filmgelände, wo regelmäßig Simons Live-Shows stattfanden,
ein Brief auf, in dem eine Million Euro Lösegeld für die
Freilassung des Mädchens gefordert wurden. Sollte Simon das
Geld nicht bezahlen, würde Lucia sterben.
Drei Tage nach der Entführung, am Samstag, dem zehnten
Juli, nahm ich zum ersten Mal an einer Besprechung der
Sonderkommission teil, die zunächst aus zwanzig Kollegen
bestand. Später arbeiteten rund sechzig Kommissarinnen und
Kommissare rund um die Uhr an dem Fall, und im Lauf der
folgenden vier Monate wuchs die Gruppe auf
einhundertzwanzig Mitglieder an, von denen nur ein Teil aus
dem Dezernat 11 stammte.
Unser Dezernat bestand neben der Vermisstenstelle, dem
Kommissariat 114, aus vier weiteren Abteilungen, der
Mordkommission, dem K 112 (den Todesermittlern, die unter
anderem für tödliche Betriebsunfälle und Selbsttötungen
zuständig waren), der Brandfahndung, die sich auch um
Umweltdelikte kümmerte, sowie dem K115, der operativen
Fallanalyse, deren Spezialisten Täterprofile erstellten und
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modernste Vernehmungstaktiken anwendeten.
Heute befinden sich sämtliche Kommissariate unter dem Dach
des Polizeipräsidiums in der Münchner Ettstraße.
Als letzte Abteilung zog damals die Vermisstenstelle aus dem
trostlosen Sechzigerjahregebäude gegenüber dem Hauptbahnhof
in die Innenstadt um. Zu diesem Zeitpunkt saß ich bereits in
diesem Hotelzimmer.
Die Vermissung der Lucia Simon konfrontierte uns von
Anfang an mit einer Übermacht an Öffentlichkeit.
»Engelchen« so nannten die Medien die angehende
Schauspielerin wegen ihrer blonden Locken und grazilen
Erscheinung, ihres scheinbar schwebenden Gangs und der
Sanftmut ihres Blicks war in jüngster Zeit auf jeder Party
erschienen, und die Fotos füllten anschließend die
Klatschspalten. Sie spielte die Hauptrolle in einer neuen
Fernsehserie und galt als hoch talentiert. Jahrelang assistierte sie
ihrem Vater in dessen Show, half den prominenten Gästen bei
den Aufgaben, die sie zu lösen hatten, fing an zu singen und zu
steppen, nahm Schauspielunterricht und trat in Krimiserien auf.
Ihre lässige, unaufdringliche Art, das Publikum zu umgarnen,
und ihr soziales Engagement außerhalb des Fernsehens, vor
allem im Bereich der Krebshilfe für Kinder und Jugendliche,
verschafften ihr Respekt und Bewunderung. Nach und nach
hatte sich die junge Frau aus dem Schatten ihres populären
Vaters geschält. Die erwähnte Hauptrolle in einer als
anspruchsvoll geltenden und nach Meinung vieler Kritiker über
dem üblichen Durchschnitt liegenden Serie sollte den Beginn
einer ernsthaften Karriere markieren. Wenige Stunden nachdem
die Entführung bekannt geworden war, häuften sich auf dem
Bavaria-Filmgelände Blumensträuße und Briefe des Mitgefühls,
Fernsehteams aus dem gesamten deutschsprachigen Raum
reisten nach München und belagerten nicht nur das Haus der
Familie am Starnberger See, sondern auch das Dezernat 11 in
der Bayerstraße.
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Obwohl die meisten Kollegen aus der Soko »Lucia« Erfahrung
mit komplizierten Vermissungen und im Umgang mit der Presse
hatten, versuchte jeder von ihnen nach spätestens drei Tagen,
den Kontakt zu Journalisten strikt zu vermeiden. An den
täglichen Pressekonferenzen, die Volker Thon und
Dezernatsleiter Karl Funkel wegen des riesigen Andrangs in das
gegenüberliegende »Intercity Hotel« verlegt hatten, nahmen
außer den beiden nur Paul Weber, der älteste Kommissar der
Vermisstenstelle, Sonja Feyerabend, Rolf Stern, der Chef der
Mordkommission, und ich teil. Und mit jedem Tag wurden die
Fragen drängender, aggressiver, lauter.
»Wie ist das zu verstehen, dass auf dem Erpresserbrief keine
Spuren zu finden sind? Auf welcher Schreibmaschine oder
welchem Computer wurde er denn geschrieben?«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Volker Thon. Bei ihm kam
abgesehen von dem üblichen Grunddruck bei einem derartigen
Fall erschwerend hinzu, dass er dazu neigte, jedem
Medienvertreter die übelsten und hinterhältigsten Absichten zu
unterstellen. Noch mehr als sonst musste er sich
zusammenreißen, nur schwer gelang es ihm, die Antwort auf
eine Frage, die ihm missfiel, zu unterdrücken und das Wort an
Funkel weiterzugeben.
»Wann findet denn nun die Geldübergabe statt?«
»Haben Sie immer noch keinen Zeugen, der irgendwas
gesehen hat?«
»Seit vier Tagen erzählen Sie uns dasselbe!«
»Glauben Sie, dass die junge Frau noch lebt?«
»Ja«, sagte Thon. Wie immer war er, im Gegensatz zu uns
anderen, auffallend modisch gekleidet. Er trug ein dunkles
Sakko, ein dunkelblaues Seidenhemd mit Halstuch, eine
Leinenhose und sauber geputzte Lederschuhe. Wenn er
nachdachte oder etwas Wichtiges mitzuteilen hatte, rieb er sich
die Hände, als habe er sie soeben eingecremt.
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In regelmäßigen Abständen kratzte er sich mit dem
Zeigefinger am Hals, eine Geste, die Sonja überhaupt nicht
leiden konnte. Sie hielt ihn für selbstgefällig und karrieregeil,
ich dagegen sah in ihm gelegentlich eine Art Gegenentwurf zu
meinem eigenen Leben. Er verbreitete Optimismus, er war
fähig, eine Gruppe zu leiten, und nannte seine Abteilung eine
»Mannschaft«, in der Einzelgänger »wie beim Fußball« nur auf
bestimmten Positionen und dosiert eingesetzt von Vorteil für
alle seien. Im Gegensatz zu den anderen Kommissaren des
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